Montag, 3. November 2008

Der Schutzengel


„Ja“, sagte mein Schutzengel, „diesmal hast du es mir aber wirklich nicht leicht gemacht.“ Er saß mir gegenüber auf dem Baumstumpf und wippte mit den Füßen. Ein wenig verwirrt sah ich mich um. Die Gegend kam mir bekannt vor. Richtig, das war das Wäldchen unterhalb der Straße, die ich beinahe jeden Tag befuhr. Aber was bitte machte ich hier?

„Nun schau nicht so verwirrt“, sagte mein Schutzengel und runzelte die Stirn. „Die Sonne scheint und es ist schön warm, also kein Grund, sich zu sorgen“. Ich sah ihn misstrauisch an, diesen spitzbübischen Kerl, der behauptete mein Schutzengel zu sein. Warum sollte ich mich sorgen? Dann inspizierte ich die Gegend genauer, während ich die Sonnenstrahlen auf der Haut genoss. Was war denn das da hinten? Mühsam stand ich auf und ging in Richtung des Qualms, den ich gerade entdeckt hatte. Mein Schutzengel folgte mir. Er wirkte nun etwas nervös. Beim Näherkommen sah ich, dass die Ursache mein eigenes Auto war. Mein schönes rotes Cabrio! Ich war entsetzt! Vorwurfsvoll wandte ich mich meinem Schutzengel zu, „Sag mal, was ist denn hier pass…“. Das Wort stockte mir in der Kehle, denn nun hatte ich mich selbst hinter dem Steuer erkannt. „Na ja“, sagte der Engel, „ganz konnte ich es eben nicht verhindern.“ Er runzelte die Stirn. „Aber“, sagte er fast entschuldigend, „dein Unfallgegner hatte keinen so guten Schutzengel“ und deutete zwischen die Büsche, wo ich einen leblosen Körper entdeckte. Schnell lief hin, sah aber gleich, dass ich für diesen Mann auch nichts mehr hätte tun können, wenn ich etwas körperlicher gewesen wäre. Körperlicher. Denn nun fiel mir auf, dass sowohl der Engel als auch ich sehr feinstofflich, fast durchscheinend wirkten. „Und du bist sicher, dass ich nicht tot bin?“ Misstrauisch beäugte ich den Engel, der wie ich fand, ein sehr gutaussehender Engel war. „Ja“, sagte mein Schutzengel, „ich bin sicher. Du bist nur schwer verletzt und komatös, darum ist das hier überhaupt so möglich.“

Ich fügte mich in mein Schicksal und fing an, mich mit dem Schutzengel wohl zu fühlen. Stunde um Stunde verbrachten wir fußwippend auf dem Baumstumpf, über Gott und die Welt fabulierend, und ich hatte es gar nicht eilig, gerettet zu werden. Aber dann stand er auf, umarmte mich und meinte, er müsse nun gehen, meine Retter seien nah. Ich wollte ihn aufhalten, ihm noch so vieles sagen und konnte doch nichts mehr tun, denn meine feinstoffliche Gestalt wurde nun magisch von meinem Körper, der noch immer im Autowrack lag, angezogen. Dann wurde es Nacht um mich.



„Ja“, sagte der junge Arzt, „da haben sie es uns aber wirklich nicht leicht gemacht.“ Verwirrt sah ich ihn an. Blinzelnd, denn das Licht schien sehr grell zu sein. Diese Stimme kam mir so bekannt vor. Als meine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah ich mir den Arzt, der unablässig weiter gesprochen hatte, um mir meinen Gesundheitszustand zu erläutern, genauer an. Komisch, auch dieses Gesicht kam mir bekannt vor. „…aber sie werden wieder ganz gesund werden.“, schloss der junge Arzt seinen Vortrag. Ich lächelte ihn an. „Sie sehen aus, wie ein Schutzengel“, sagte ich zu ihm. Er wurde ein wenig verlegen. Aber ich fürchte, was ich wirklich damit gemeint habe, hat er nicht verstanden. Wie sollte er auch. Ich habe es ja bis heute selbst nicht verstanden. Aber manchmal sehne ich mich zu diesem Baumstamm: feinstofflich, schwerelos in der Sonne sitzen und über Gott und die Welt plaudern.

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