Montag, 3. November 2008

Heldentat einer Mutter

Für Papa.

Maria hob ihren Kopf. Sie hatte vom Hof aus ein Geräusch gehört. Schnell lief sie ins Schlafzimmer, um zu sehen, ob Heinz, ihr einjähriger Sohn, noch schlief. Ein Blick ins Bettchen beruhigte sie, Heinz lächelte im Schlaf. Ebenfalls lächelnd ging sie zurück in die Küche. Da hörte sie wieder ein Poltern und einen unterdrückten Schrei. Diesmal aus der Werkstatt ihres Mannes, der einen kleinen Schusterladen betrieb. Aus Russland vertrieben, hatten sie sich hier in Tilsit niedergelassen. Zurzeit - nach Abschluss des Versailler Vertrags - war es häufiger zu Unruhen in der Stadt gekommen. Ja, neulich hatten sie sogar den kleinen Kolonialwarenladen an der Ecke geplündert und die alte Frau, die ihn besaß, beinahe umgebracht.

Maria war also alarmiert. Vorsichtig öffnete sie die Tür zur Werkstatt. Was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren! Wilhelm, ihr Mann, lag rücklings über seiner Schusterbank. Ein großes Messer steckte in seiner Brust. Sie hörte ihn röcheln, aber widerstand dem Drang, zu ihm zu laufen oder zu schreien, denn sie spürte, der Mörder war noch da. Schnell drehte sie sich um, lief ins Schlafzimmer und nahm vorsichtig den schlafenden Knaben aus seinem Bett. Sie öffnete den großen Eichenschrank mit der Wäsche und legte Heinz in eines der Fächer, immer hoffend, er würde nicht aufwachen. Und Heinz schlief tatsächlich tief und fest weiter, das rettete sein Leben.

Maria ging nun zurück in die Küche und bewaffnete sich mit dem Küchenbeil. Sie wollte nicht kampflos sterben, ihr Kind verteidigen. Als die Männer in den Raum stürmten, schrie sie aus Leibeskräften um Hilfe. Es nützte ihr nichts. Die Männer schändeten sie zuerst, ermordeten sie eiskalt und machten sich dann daran, alles Verwertbare einzupacken und näherten sich dabei dem Schlafzimmer, in dem Heinz noch immer tief und fest im Schrank schlief. Der kleine Junge hatte wohl einen besonderen Schutzengel, denn just, als die Bande die Schlafzimmertür öffnen wollte, erschien endlich die Polizei und die Verbrecher flohen.

Wie war man doch entsetzt über die furchtbare Tat. Schamhaft breitete einer der Polizisten, der Maria gut gekannt hatte, seine Jacke über den geschändeten Körper der jungen Mutter. Der junge Mann weinte dabei. Sein Kollege kehrte aus der Werkstatt zurück und berichtete von Wilhelms Schicksal. Aber um Gottes Willen, wo war das Kind? Gepolter aus dem Schlafraum ließ sie die Beine in die Hand nehmen. Zunächst wussten sie nicht, woher es kam, aber dann hörten sie den kleinen Heinz dort im Schrank weinen. Erleichtert sahen sich die beiden Männer an und befreiten das Kind. Der Polizist, der Maria mit seiner Jacke bedeckt hatte, nahm den Jungen auf den Arm und bedeckte dessen Augen als sie an Marias Leiche vorbeigingen. Er brachte Heinz zunächst nach Hause zu seiner Frau.

Die hilfsbereite Familie hatte jedoch selbst schon sechs Kinder, das Kinderheim war überfüllt, was also war mit Heinz zu tun? Da hörte der Pfarrer von einem Heim im Ostwestfälischen, das noch Kinder aufnehmen konnte. So machte der kleine Heinz im Alter von einem Jahr eine lange Reise bis nach Ostwestfalen ins Kinderheim. Später wurde er von einer reichen Familie aufgenommen, aber nie adoptiert.

Seine Heimat hat er erst im Krieg wiedergesehen. Als Soldat in der Nähe stationiert, zog er Erkundigungen über sein Schicksal ein und traf eine Frau, damals Nachbarin, die sich noch gut an das schreckliche Ereignis erinnern konnte.

Auf diesen Erzählungen basiert diese Geschichte, die ja eigentlich auch meine ist. Denn Maria, die ihr Kind mit einer klugen Entscheidung retten konnte, war meine Großmutter.

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