Sonntag, 8. November 2009

Jamila

Anmerkung der Autorin: Diese Geschichte ist schon etwas älter und wurde aus einem anderen Anlass geschrieben. Sie erscheint mir vor dem Hintergrund der derzeitigen Ereignisse aber durchaus aktuell. Sie entschuldigt nicht, sie sucht nach Erklärungen. Und ich bitte mir nachzusehen, wenn ich die Kampfflieger nicht richtig beschrieben habe. Ich kenne mich damit nicht aus, will es nicht auch nicht wissen und finde es unerheblich für den Kern der Geschichte.

Jamila sitzt am Brunnen im Dorf und wäscht die Wäsche. Sie tut es mit geschickten Händen wie ihre Mutter und deren Mutter zuvor. Anfangs haben ihre Hände dabei weh getan. Heute ist die Haut hart und gegerbt. An die Arbeit gewohnt. Und doch können ihre Hände noch zärtlich sein. Auch wenn es ihrer Seele immer schwerer fällt.

Die Arbeit, das Schrubben der Wäsche, ist für sie Meditation. Sie denkt dann an die vergangenen Zeit. An ihre Brüder, ihre Schwestern, ihre dicke, fröhliche Mutter und ihren schweigsamen, gütigen Vater. Früher gingen die Frauen des Dorfes gemeinsam zum Waschen. Sie nutzten es als Informationsbörse. Sie lachten und stritten und tuschelten über ihre Männer. Heute findet das kaum noch statt. Es ist zu gefährlich geworden.

Jamilas Mutter führte einen organisierten Haushalt. Sie war den Kindern eine liebevolle Mutter, aber sie war auch streng und bändigte die sechs Kinder mit eiserner Hand. Der Vater, der draußen ein Krieger war, ein wichtiger Mann im Kampf gegen die Invasoren, er ordnete sich dem Regiment der Mutter unter. Er war ein liebevoller Vater und brachte nie eine Waffe mit ins Haus. Jamila erfuhr erst, wer ihr Vater wirklich war, als ihre Familie und das Haus nicht mehr existierten, weil eine israelische Bombe es zerstört hatte. Sie wurde von Nachbarn großgezogen, die das Andenken ihres Vaters ehrten, und fand einen Mann, der nichts mit dem Krieg zu tun hatte.

Er ist Buchhalter, jetzt seit zwei Jahren arbeitslos, seit der Zaun existiert und er keine Möglichkeit mehr hat, pünktlich bei seinem Arbeitgeber zu erscheinen. Sie leiden keine Not, denn sie haben einige Ersparnisse zurückgelegt. Abdel erledigt kleinere handwerkliche Tätigkeiten im Dorf, bei denen, die es sich noch leisten können und sie, Jamila, trägt ihren Teil durch Näharbeiten hinzu. Ihre Hände sind hart, aber geschickt.

Jamila denkt an ihre Kinder, die mit Abdel zuhause sind. Den kleinen Mohammed, der unbedingt Astronaut werden will, Asad, der Löwe, der älteste Sohn, viel zu ernst für sein Alter, Mahdi, der mittlere, der weint, weil er nicht mehr zur Schule gehen kann und zuletzt ihre kleine Blume, Ayana, erst sechs Monate alt. Ihre Herz wird ganz warm, wenn sie an sie denkt.

Jamila hört ein lautes Brummen. Sie ahnt, was das ist. Sie hat es schon oft gehört, auch in der Nacht, in der ihre Geschwister und Eltern starben. Es kommt immer näher. Panisch rafft sie Wäsche und ihren Hidschab, den sie beiseite gelegt hatte, und läuft in Richtung ihres Hauses. Doch zu spät. Die Bombe fällt. Sie weiß instinktiv, welches Haus sie getroffen hat. Fassungslos steht sie vor den brennenden Trümmern, in denen all ihr Glück, ihre Liebe und ihre Selbstachtung waren. Sie steht erstarrt zur Salzsäule. Die Bilder gleichen sich. Nur damals, als Kind, hat sie nicht verstanden, was passiert war. Heute weiß sie es. Und auch, wer der Verursacher ist.

Nachbarn, Freunde eilen herbei und zerren Jamila von der Straße. Wie in Trance sieht sie die verbrannten Körper, die ihr Leben bedeuteten, die aus dem Haus getragen werden. Jamila ißt nicht, schläft nicht und sagt kein Wort. Drei Tage lang. Die anderen Frauen reden auf sie ein, versuchen sie aufzurütteln. Sie soll weinen und schreien und trauern. Aber dort, wo einmal ein Herz war, sitzt nun ein Stein in Jamilas Brust. Sie ist zu keiner Regung fähig.

Am vierten Tag hüllt sie sich in ihren Hidschab und macht sich auf den Weg nach Ramallah. Sie braucht zwei Tage, denn ihr Körper ist geschwächt. Als sie ankommt, bluten ihre Füße. Sie fragt nach dem Haus des Anführers. Man gibt ihr zu trinken, verbindet ihre Füße und führt sie endlich hin. Der Anführer will keine Frau empfangen, heißt es. Erst als sie den Namen ihres Vaters nennt, wird sie zu ihm gelassen. Der Anführer ist erstaunt. Er kannte noch ihren Vater persönlich.

„Was willst du hier, Jamila?“ fragt er. „Geh nach Hause zu deiner Familie“.

„Ich habe keine Familie mehr!“ Jamila unterdrückt die erstmals aufsteigenden Tränen. Ihre Stimme klingt ganz fest, als sie sagt: „Gib mir eine Bombe, ich will Rache.“

Der Anführer streicht ihr über den Kopf und sagt „Wie du willst mein Kind, Allah wird es dir vergelten.“

...

Jerusalem (dpa)

Bei einem weiteren Selbstmord-Attentat starben in Jerusalem 30 Menschen, als ihr Bus von einer Bombe zerfetzt wurde. Nach Augenzeugenberichten handelte es sich bei dem Attentäter um eine junge Frau.