Donnerstag, 19. April 2012

Tom mit den roten Haaren

Tom war ein großer, kräftiger Junge mit roten Haaren und Sommersprossen. Wir körperlich kleineren Jungs hatten mächtigen Respekt vor ihm. So kam es, dass Tom oft allein auf dem Schulhof stand, weil sich so recht keiner an ihn herantraute. Außerdem hatte er rotes Haar. Das fanden wir alle doof.


Eines Nachmittags war ich mit dem Fahrrad unterwegs. Es hatte vorher geregnet und der Feldweg, der sich am kleinen Bach entlangschlängelte, war ziemlich rutschig – und dann passierte es, zack lag ich im Dreck und das Fahrrad halb im Wasser. Verzweifelt hielt ich es am Lenker fest, denn die durch den Regen verstärkte Strömung des Baches drohte, meinen geliebten Drahtesel mitzureißen. Hilflos sah ich mich um. Meine Hände schmerzten und mein Bein ebenfalls. Ich heulte vor Verzweiflung. Plötzlich fassten zwei sommersprossige Hände von hinten zu und zogen das Rad aus dem Bach, legten es in Sicherheit am Wegrand ab. Mit verschwollenen Augen sah ich auf. Es war Tom – und mir blieb vor Schreck das Herz stehen. Was würde er jetzt machen? Mir das Rad klauen? Ich konnte nicht aufstehen, denn mein Bein tat höllisch weh und nun sah ich, dass ein Knochen nach rechts herausragte. Mir wurde ganz schlecht. Tom kam nun zu mir und besah sich mein Bein. „Gebrochen“, murmelte er „Krankenhaus“. Ohne weitere Worte hob er mich hoch, was mich wegen dem Schmerz fast bewusstlos werden ließ, und nahm mich Huckepack auf seinen Rücken.

Er blieb wortlos und trug mich den ganzen Weg bis zu meinem Elternhaus. Dort klingelte er und setzte mich, nachdem meine Mutter geöffnet hatte, vorsichtig auf der Telefonbank im Flur ab. „Bein gebrochen, Krankenhaus“ nuschelte er meiner entsetzten Mutter zu. Dann drehte er sich wieder um und ging. „Ja wo willst Du denn hin?“ rief ihm meine Mutter nach. „Fahrrad“, sagte er nur und verschwand. Meine Mutter rief sofort einen Krankenwagen und begleitete mich ins Krankenhaus. Ein paar Wochen musste ich dort bleiben. Mutter erzählte mir, dass als sie an dem Tag nach Hause kam, das Fahrrad sauber und abgeschlossen vor der Tür stand. Irgendwann in dieser unendlich langen Krankenhauszeit kam Tom dann zu Besuch. Mama war bei ihm zuhause gewesen und hatte sich für meine Rettung bedankt, dann nahm sie Tom mit zum Krankenhaus. Er hatte eine ganze Kiste Spiderman-Comics dabei und stellte sie etwas ungelenk auf meinem Nachttisch ab. „Brauch ich nich mehr“, nuschelte er. Ich war begeistert, denn Spiderman war mein Lieblings-Comic. Von da an kam Tom mich öfter besuchen. Er blieb einsilbig und trotzdem verstanden wir uns prima.

Als ich endlich wieder nach Hause durfte und zurück in die Schule musste, bekam Tom von unserer Direktorin eine Ehrung, weil er so tapfer gewesen war. Ich war mächtig stolz, ihn zum Freund zu haben und auch die anderen Kinder fanden rotes Haar jetzt gar nicht mehr doof.  

(M)ein Beitrag zur Themenwoche "Freundschaft" bei zeitverdichtet 

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