Mittwoch, 18. März 2009

Charlottes Nähkästchen


Als Du es noch konntest, hast Du feine Tischdecken gehäkelt. Stunde um Stunde hast Du da auf Deinem Sofa gesessen, geraucht, Dein Eierlikör-Sprudel-Zeugs getrunken und erzählt. Vom Krieg. Damals warst Du eine junge Frau mit wunderschönen blonden Haaren. Und Du warst Straßenbahnschaffnerin von Beruf. Weil Du so hübsch warst wurdest Du manchmal belästigt. Aber Du hattest von jeher eine große Klappe und wusstest, Dich zu wehren. Als die ersten Bomben fielen, wurdet ihr aufs Land geschickt. Später bist Du zurück, um zu helfen. Mich erschauert es noch heute, wenn ich an die Leichenberge verbrannter Menschen denke, von denen Du unter Tränen gesprochen hast. Aber auch lustige Sachen wusstest Du zu erzählen. Wie Du Deinen Mann kennenlerntest und er Dich umgarnte. Ihr verlobtet Euch noch schnell, denn er war als Soldat mit Kurs Richtung Ostfront auf der Durchreise. Dort, in Russland, galt er dann auch als verschollen und es hat lange gedauert, bis Du ihn wiedergesehen hast.


Jahre später ging es schleichend mit Deiner Gesundheit bergab. Eine schwere Kopfoperation, die Dein Gesicht zur Hälfte lähmte, konnte Dich nicht wirklich aus der Bahn werfen. Ich sehe Dich da sitzen, über Dich selbst und Deine neue Hässlichkeit spotten und täglich üben, um wenigstens einen Teil der verletzten Nerven wieder zu stimulieren. Geraucht hast Du weiterhin. Aber mit dem Eierlikörzeugs war Schluss. Die Krankheit hat Dich bitterer gemacht, aber Deinen - manchmal zynischen - Humor hast Du trotz allem nicht verloren. Auch dafür habe ich Dich immer geliebt und bewundert.

Nach der ersten Krebsoperation hast Du angefangen, Dein Nähkästchen zu füllen. Nähen oder häkeln war nicht mehr möglich, Deine Hände nicht mehr ruhig genug. Also fülltest Du das Nähkästchen mit allem, was Dich interessierte oder bewegte. Zeitungsausschnitte, Steine, Haarnadeln, Kinderschuhe. Jetzt lagst Du auf dem Sofa und machtest Kreuzworträtsel, um Deinen Geist wach zu halten. Liebevoll umsorgt von Deinem Mann.

Aber der Krebs hatte keine Gnade mit Dir. Obschon Du gekämpft hast wie eine Löwin, selbst eine Hirnhautentzündung konnte Dich nicht umbringen. Sieben Jahre Schmerzen, sieben Jahre schleichende Demenz und zunehmende Hilflosigkeit musstest Du hinter Dich bringen, bis der Tod Dich endlich erlöst hat.

Was von Dir geblieben ist, außer wunderbaren Kindheitserinnerungen? Dein Nähkästchen. Ich habe es noch nicht geschafft, es zu öffnen und zu sichten. Seit fünf Jahren nicht. Am Wochenende habe ich Dich besucht auf Deiner Wiese, wo Du Dich anonym hast bestatten lassen, weil Du niemandem zur Last fallen wolltest, mit Deiner Grabpflege. Ein schöner Platz ist das. Beschattet von einem riesigen Tannenbaum mit mächtigen Ästen und knorziger Rinde. Es ist tröstlich, sich vorzustellen, dass dieser Baum Dich nun beschützt. Du sicher verwahrt zwischen seinen Wurzeln liegst.

Den zynischen Humor und die Kämpfernatur habe ich von Dir geerbt. Beides nicht immer leichte Hypotheken, aber auch Eigenschaften, die mich das Leben haben meistern lassen. Ich will also zufrieden sein und mutig.

Denn weißt Du was, Charlotte? Morgen, ja morgen öffne ich endlich Dein Nähkästchen. Dann kannst Du mir noch einmal - zum letzten Mal - all die vertrauten Geschichten erzählen. Vielleicht gelingt es mir dann endlich, wirklich Abschied von Dir zu nehmen. Und nicht mehr von Dir zu träumen. Zu verstehen, dass Du nun Deinen Frieden hast. Und ich meinen Frieden mit Dir machen kann.

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